Aus: Die Kunst für Alle. V. Jahrgang 1890, Heft 10, S. 145-151

Wilhelm Allers

Von Ludwig Pietsch


Im vorigen Jahr waren in den Räumen des Künstlervereins zu Berlin zahlreiche Bleistiftzeichnungen eines Hamburger Künstlers W. Allers ausgestellt, welche weit mehr, als es sonst farblosen Zeichnungen zu gelingen pflegt, das Interesse auch des großen Laienpublikums erregten. Die dargestellten Gegenstände und die Art der Darstellung in ihrer außerordentlichen Lebendigkeit und Wahrheit hatten gleichen Anteil an dieser Wirkung. Diese ziemlich großen Bleistiftzeichnungen veranschaulichten Szenen und Einzelgestalten, Typen und Porträtfiguren aus der Welt des Theaters im weitesten, das ganze Gaukler- und „Artistentum” umfassenden, Sinne; ihrem Leben hinter und vor den Kulissen; - jener Welt, welche, wie in der Wirklichkeit, so auch im Bilde der Gunst und Teilnahme der Menge immer gewiß sein darf. Die eine Abteilung dieser Zeichnungen bestand ausschließlich aus solchen, welche Persönlichkeiten aus der englischen Gesellschaft, der wir die ersten Aufführungen des Gilbert - Sullivanschen „Mikado“ in Deutschland verdankten, und welche hinter den Kulissen dieser Aufführungen spielende Vorgänge schildern. Die zweite Abteilung umfasste meist typische Bilder aus dem Schauspieler– und Gauklerleben; dazu einige mehr porträtartige Darstellungen aus dem Tierzirkus und dem Zwergentheater.

Allen diesen Blättern gemeinsam war die genaue, gründliche Vertrautheit ihres Zeichners mit dieser Menschengattung, ihrem Leben und Treiben, die außerordentliche Schärfe der Beobachtung, die lebenswahre Charakteristik, die freie, sichere, schlichte Art der zeichnerischen Schilderung und die eigentümliche Behandlung der Bleistifttechnik. Allers verzichtet auf jedes Bestreben, mit diesem Material eigentlich malerische, d. h. Tonwirkungen, hervorzubringen. Er gibt die Formen in voller Bestimmtheit des Umrisses und der inneren Modellierung; aber er vermeidet alle tieferen Schwärzen, alle energischen Gegensätze des Tons. Meist sind alle Gestalten und Gegenstände auf diesen Zeichnungen in ziemlich gleichmäßigen, milden, grauen Bleistifttönen gehalten und diese mittels weicher, bald dichter bald lockerer gelegter, bald breiter und verschmolzener, bald spitzerer Strichlagen hervorgebracht. Aber mit diesen einfachen Mitteln, ohne die Kraft irgend erschöpfend auszuüben, welche der Bleistift (Man sehe Menzelsche Zeichnungen!) auszugeben vermag, erreicht Allers es dennoch, seine Menschenbilder in solcher Lebendigkeit, überzeugenden Wahrheit der Erscheinung, des Ausdrucks der Augen, der Minen, der Hände, der gesamten Bewegungen hinzustellen, daß wir jenen Mangel der Tonstimmung und Wirkung kaum als solchen empfinden und nur die uneingeschränkte Freude an diesen Treuen, anmutigen, heiteren und liebenswürdigen Abbildern jener seltsamen, von einem eigentüm­lichen Reiz umwobenen Wirklichkeit genießen.

Er zeichnet die in den Mikado-Aufführungen mitwirkenden unvergeßlichen englischen Künstler und Künstlerinnen jener ersten und besten der verschiedenen damit bei uns gastiert habenden Truppen in ihren Garderoben, beim Schminken, Frisieren und Ankleiden, beim Ausruhen, beim Erwarten ihres Stichwortes, beim Betrachten des Publikums durch das Gucklöchelchen im geschlossenen Vorhange; einzeln und in Gruppen von zwei bis sechs und acht Gestalten. Nichts entgeht ihm. Alles, was er sieht, wird ihm zum Bilde und reizt ihn zu dessen Darstellung und alles schreibt er nach raschem Sehen im schnellen Fluge in seiner schlichten Weise echt und wahr auf das Papier nieder.

Die zweite Folge enthielt nicht minder treffliche Blätter; eine Gesellschaft von Mitgliedern einer Spezialitätenbühne nach der Vorstellung mit ihren Freunden und Verehrern beim Abendessen im Restaurant; der Interviewer unter den kleinen Herren und Damen des Zwergentheaters, der Hauptkünstler des letzteren, Franz Ebert, dem Hervorruf folgend und den großen Lorbeerkranz mit stummem Dank entgegennehmend; die Siesta im Tierzirkus; der Elefant im traulichen Beisammensein mit seinem Wärter; Minon und Manon in der Damengarderobe der Operettenbühne; Mr. Barklay führt die Riesenschlange vor, wozu die Musikanten auf ihrer Estrade Trompeten und Klarinetten blasen; eine Kunstpause, in welcher ein Clown hinter den Kulissen auf der Spirituslampe sich eine Schokolade im Blechgefäß kocht, von dem sein Töchterchen erwartungsvoll den Deckel abhebt; die Primadonna, die bereits im Kupee, bei ihrer Abreise sich von ihren Freunden verabschiedet; die Soubrette auf der Gastspielreise; Die erste Liebhaberin nach ihrem Benefiz. Andre Zeichnungen dieses Zyklus stellen theatralische Charaktertypen in ganzen Gestalten und in großen Halbfiguren da: den Komiker, den ersten Helden und Liebhaber, den jugendlichen Liebhaber, den alten muntern Garderobier im Begriff eine Nabel einzufädeln, der Charakterschauspieler, von Zorn und Grimm übermannt nach der Lektüre eines Zeitungsblattes mit einer abfälligen Kritik seiner jüngsten Leistung; das Stubenmädchen, das beim Abstäuben seine erste Rolle für die Vorstellung im Liebhabertheater einstudiert; den hübschen, kleinen Zirkusjungen, das reizende, kleine Töchterchen des Clown.

Diese hier ausgestellt gewesenen Blätter sind nicht die ersten ihrer Gattung, welche Allers gezeichnet hat und nicht die ersten Arbeiten, durch welche er in Berlin bekannt wurde. Vor drei Jahren kam der damals kaum dreißigjährige Künstler hierher. Man wußte hier nichts von seiner Person und seinem Talente. Aber an einen aus Hamburg stammenden geschätzten humoristischen Schriftsteller empfohlen, zeichnete er dessen Bildnis in Bleistift. In der Zeit von anderthalb Stunden hatte er in diesem Kopf von frappantester Ähnlichkeit, lebendigstem geistigem Ausdruck und feinem Formenverständnis ein kleines Meisterwerk der Porträtzeichnung geschaffen, das ihm in den, auf die Meinung der Berliner Gesellschaft einflußreichsten literarischen Kreisen rasch Ruf und Gunst erwarb. Kaum eine der zu letzteren gehörigen bekannteren Persönlichkeiten Berlins, kaum ein Mitglied ihrer Familien, die damals nicht von Allers gezeichnet worden wären; bald einzeln, bald in ansprechenden ruhigen oder bewegten Gruppen, die völlig den Eindruck machten, als seien sie, wie sie sich zufällig in Wirklichkeit gebildet hätten, dieser im glücklichen Moment abgelauscht.

Nicht nur sein Talent, seine ungewöhnliche Gabe der raschen, sicheren Auffassung und zeichnerischen Wiedergabe der charakteristischen Erscheinung und des individuellen Wesens der Menschen, der Kinder wie der Erwachsenen, erwarb Allers die allgemeine Beliebtheit. Seine originelle Persönlichkeit, seine Frische, Unreflektiertheit, sein behaglicher, gelassener, echt nieder­deutscher Humor trugen nicht minder dazu bei. Man merkte es ihm an, daß die Schule der Kraft und des Lebens, die er durchgemacht hatte, eine gründlich von der verschiedene sein müsse, welcher die Mehrzahl der heutigen jungen Männer und Künstler ihre Entwicklung, ihre menschliche und ihre Fachbildung dankt. Dieser Lebensgang ist denn auch in Wahrheit ziemlich einzig in seiner Art.

Im Jahre 1857 zu Hamburg geboren, sah Allers sich seit seinem vierzehnten Lebensjahr fast allein auf sich selbst gestellt, auf seine eigene Kraft und Fähigkeit angewiesen, um sich durch die Welt zu helfen und vorwärts zu bringen. Schon als Schüler der Gewerbeschule in seiner Vaterstadt zeichnete er Illustrationen für ein dortiges Witzblatt. Dann kam er zu einem Lithographen in die Lehre, durfte aber zugleich noch weiter am Unterricht in der Gewerbeschule teilnehmen. Ein starkes Verlangen zog und trieb ihn nach Karlsruhe. Durch Bilder von Ferdinand Keller, die er zu Gesicht bekommen hatte, war dasselbe in ihm erweckt worden. Gänzlich mittellos trat der junge Lithograph die Reise dorthin an. Er schloß sich unterwegs einer Gesellschaft von wandernden Musikanten an, für die er das Geld bei den Zuhörern ihrer Konzerte auf dem Teller einsammeln ging. Streckenweise wurde die Reise auch in der vierten Wagenklasse der Eisenbahn gemacht, wo Allers mit den dieselbe benutzenden Bauernfrauen, Soldaten und kleinen Leuten gute Kameradschaft hielt. In Karlsruhe genoß er kurze Zeit den Unterricht F. Kellers. Aber er erkannte bald, daß das, was er dort gefunden hatte, seinen Träumen nur mäßig entsprach. Bald kam die Wanderlust unwiderstehlich über ihn. Er hatte es zum Besitz eines Vermögens von 60 Mark gebracht. Mit diesem Schatz in der Tasche brach er zu Fuß nach Italien auf. Man kann nichts Ergötzlicheres hören, als die Erzählung der Geschichte dieser seiner ersten italienischen Reise und aller der abenteuerlichen und verwegenen Unternehmungen, um während der Wanderung sich Geld und Nahrung zu verschaffen. Ein russischer Schriftsteller in ähnlicher Lage war sein Reisegefährte. Sie gaben Vorstellungen von Nebelbildern in den Städten, in denen sie verweilten, kündigten wissenschaftliche Vorlesungen an, bei denen erläuternde, von Allers gezeichnete, Bilder gezeigt wurden. Sie errichteten in einer Vorstadt von Parma ein Liebhabertheater, dessen Schauspieler und Schauspielerinnen für die ihnen überlassenden Rollen den Direktor bezahlten. Dies merkwürdige Kunstinstitut wurde nach sechswöchentlichem Dasein durch ein Polizeiverbot getötet. Plötzlich zog das Heimweh in die Seele des jungen erfindungsreichen Vagabunden ein. Er schlug sich glücklich bis nach Hamburg durch. Dort lithographierte und porträtierte er, wirkte in den Abendstunden als Statist im Stadttheater, als Bär, als Drache, als römischer Plebejer und Senator, als König Heinrichs VI. Leiche im Sarge und andern stummen Rollen, oder zum allgemeinen Volksgeschrei, Beifallsjauchzen, Zornesgemurmel und Gebrüll sein Teil nach besten Kräften beitragend, mit.

Damals gelang es Allers, die Aufmerksamkeit von Hamburger Kunstmäcenen auf sich zu lenken und so zu einem Stipendium von ganzen hundert Mark zu gelangen. Aufs neue wanderte er, so stattlich ausgerüstet, nach Karlsruhe. Aber mit dem angeblichen Kunststudium wollte es dort auch diesmal nichts rechtes werden. Mit einem befreundeten Schüler des Polytechnikums, mit dem er sich auf dem „Dörfle” vor der Stadt bei einer Leichen­wäscherin und Ankleiderin eingemietet hatte, führte er ein wunderliches Zigeunerleben. Sie hielten sich Gänse, um sie zu mästen, zu schlachten, sauer einzumachen und deren Lebern nach Straßburg zu verkaufen. Sie streiften bei den Bauern im Lande umher, trieben eine Art Hausierhandel, zogen auf den Dörfern sogar mit sehr primitiven Werkzeugen gegen äußerst mäßige Honorare in Geld oder Lebensmitteln Zähne aus.

Aber so ging es nicht weiter. Wieder erwachte die Sehnsucht nach den verlassenen Fleischtöpfen Hamburgs; und den Rhein von Mannheim bis Rotterdam hinab und von dort über das Meer fahrend, gelangte Allers dahin zurück. Ein Jahr hatte er dort wieder lithographiert und Porträts gezeichnet, als er sich entschloss, zu seiner Großmutter aufs Land zu gehen, um sich da etwas herauszupflegen und zu Kräften zu kommen. Die bei ihr verlebte Zeit hat er fleißig ausgenützt. Hunderte von Studien nach der Natur, nach Menschen aller Arten, Tieren und der Landschaft zeichnete er während dieses Aufenthaltes. Von Professor Pöth dazu eingeladen, machte er mit diesem eine Studienreise nach Südtirol. Und nochmals zog er vom "Fels zum Meer”, - diesmal, um sich diesem für ein ganzes Jahr völlig dem letzteren anzuvertrauen. Er diente dies Jahr über als Matrose und machte als solcher verschiedene Fahrten mit. Sein künstlerisches Talent und das Können, das er sich ganz autodidaktisch im eifrigen Zeichnen nach der lebendigen Natur erworben und angeeignet hatte, waren vortreffliche, wirksame Empfehlungen für ihn. Die Gunst seiner Oberen wandte sich ihm in ungewöhn­lichem Grade zu, und er genoß alle die Vorteile, Annehmlichkeiten und Erleichterungen im Dienst, welche aus derselben resultieren. Allers rühmt sich noch heute “Ehrenmitglied des Marineoffizier-Musikvereins zu Kiel” zu sein.

Und abermals trat er, diesmal mit ausreichenderer Unterstützung die Pilgerfahrt nach dem ihn magnetisch anziehenden Karlsruhe an, wo er, inzwischen 24 Jahre alt geworden, nun ein regel­rechtes Studium der Malerei auf der großherzoglichen Kunstschule begann und während mehrerer Jahre fortsetzte. Nach dessen Absolvierung in die Heimat zurückgekehrt, arbeitete er mit verdoppeltem Eifer, Aufträge jeder Gattung annehmend und seine eigenen Ideen gestaltend. Er lithographierte Plakate, zeichnete in Bleistift und Pastellfarben Bildnisse, malte in Öl, entwarf Illustrationen und Zyklen von Zeichnungen aus dem Leben. Zu Anfang des Jahres 1887 kam er zum erstenmale nach Berlin. Hier hatte er den oben geschilderten Erfolg mit seinen Bleistiftportäts. Lange aber hat es ihn hier nicht geduldet. Er zog noch einmal nach Italien, nahm dann wieder seinen Aufenthalt in der Vaterstadt, von wo er im letzten Januar wieder in Berlin eintraf, eine Sammlung von neuen Bleistiftzeichnungen, - noch außer jenen im Künstlerverein ausgestellten, - mit sich führend, welche hier die uneingeschränkte warme Anerkennung auch der berufensten und strengsten Beurteiler, der ersten Meister Berlins, gefunden haben. Es sind die Zeichnungen des Zyklus: Eine Landpartie des „Klubs Eintracht” (3 Abb. in Heft 6). - Mit dieser künstlerischen That, mehr wie mit jeder seiner andren Arbeiten, hat er sich seinen Rang als einer der besten und originellsten deutschen Zeichner und Schilderer des Lebens und der Menschen unserer Tage erobert, der ihn unbestritten von den Kunstgenossen wie von dem Publikum zugesprochen werden muß.

Vorausgegangen war dieser zusammenhängenden Bilderfolge eine andre, deren Gegenstände und Motive ihm seine Lieblingswelt, die der Kunstreiter und „Artisten”, geliefert hatte. Diese Folge ist durch Lichtdruck vervielfältigt, unter dem Titel „Hinter den Kulissen des Zirkus Renz”. Der Inhalt ist höchst manigfaltig. Wir blicken in die Ställe, in die Garderoben, die Probe- und Erziehungsräume hinter jenen Zirkuskulissen. Wir sehen die Großen und Kleinen sich anziehen, schminken, frisieren, ihre Rollen einstudieren und versuchen, ihre Arbeitspausen mit verschiedenen Beschäftigungen ausfüllen; sich zum Hinausreiten in die Arena anschicken. Wir beobachten das Verhalten und die Verhältnisse der Mitglieder zu und untereinander. Der Vorhang wird uns aufgezogen von einem, den Zuschauern der öffentlichen Aufführungen sonst streng verschlossenen, seltsamen Stück Welt und Leben, das in dieser Seltsamkeit aber noch viel ergötzlicher ist, als jene großen, glänzend in Szene gesetzten öffentlichen Schauspiele vor den Kulissen in der Arena selbst. Wie in den Zeichnungen zu „Hinter den Kulissen der Mikado-Aufführungen” sind auch die hier dargestellten Menschen zum größten Teil Bildnisse von wirklichen Mitgliedern der geschilderten Gesellschaft. Einzelne Blätter zeigen größere Bildnis-Halbfiguren der beliebtesten, schönsten und reizvollsten Reiterinnen und Trapezkünstlerinnen dieses Zirkus. Auf den andern sind die Mitglieder sämtlich in irgend einer mehr oder weniger in ihr Fach einschlagenden Handlung oder Situation dargestellt. Das aber geschieht immer so, daß man nie den Eindruck des Zurechtgestellten, Arrangierten und Komponierten, sondern immer den des Natürlichen und Zufälligen empfängt, dessen Bild der schnell auffassende Zeichner vor der Wirklichkeit selbst oder aus der Treu festhaltenen Erinnerung aufs Papier gebracht hatte. Ein diesem Zyklus entlehntes Bild geben wir hier als Probe: ein Bild aus den Unterrichtsstunden der Zirkuskinder, denen hier mit Hilfe eines Erdglobus ganz ernstlich der Anschauungsunterricht in der Geographie durch ein gebildetes und bebrilltes altes Gesellschaftsmitglied in Hemdärmeln erteilt wird. Außer der menschlichen Zirkusjugend sehen wir auch eines der talentvollen Möpse dieses Kunstinstituts mit gespannter Aufmerksamkeit und heiligem Ernst dem Vortrage lauschen. Zu diesem Blatt bildet ein andres das heitere Gegenstück. Da wird derselbe Erdglobus als Unterrichtsinstrument der Kunst des Laufs auf der Kugel verwendet, welche der Clown François mit väterlich liebevoller Sorgfalt und Achtsamkeit seinem kleinen Nachwuchs beibringt. Aus der großen Zahl der andern Darstellungen dieses Zyklus erwähne ich hier noch einige der ansprechendsten und eigenartigsten: Die Garderobe der kleinen Mädchen der Kunstreiterfamilien Hagen und François, welche von Mutter und Dienerin für die Mikado-Kinderpantomime angekleidet und geschmückt werden; die Musik- und Tanzprobe der Zigeuner; die in ihrer Garderobe Kaffee trinkenden und Karten spielenden drei Clowns; die Musikschule der kostümierten kleinen Clowns bei ihrem Meister und Vorbilde aus derselben Gilde; die Schule der gelehrigen Hunde (ein kleines Meisterwerk der Beobachtung und Darstellung der Tiere) durch den Clown Sam Warne; die Damengarderobe während der Nachmittags­vorstellung, wo mehrere hübsche junge Tänzerinnen und eine Schulreiterin zugleich ihre Toilette machen; der Clown François und die schöne Reifenspringerin, im Kostüm ihrer Kunst auf dem Korridor in munterer Konversation auf ihr Stichwort wartend; der gestürzte Clown auf seinem Schmerzenslager heroisch gefaßt hingestreckt in dem armseligen Nebenraum des Zirkus, in welchem die teilnehmenden Kollegen beisammen stehen, den schweren Fall schildernd und besprechend.

Bei allen diesen Darstellungen kamen dem Zeichner die Seltsamkeit der Erscheinungen, die groteske Komik und andrerseits der malerische Reiz der Kostüme, in welche die Gestalten gekleidet erscheinen, wesentlich zu statten. Daß er solche Hilfsmittel der Wirkung auf den Beschauer indeß keineswegs bedarf, um höchst eindrucksvolle Bilder zu schaffen, bewies er nie glänzender als in jenem oben genannten viel umfassenden neueren Zyklus von Zeichnungen, den er Weihnachten 1888 in Hamburg unter dem Titel „Der Klub Eintracht” in Lichtdruckkopien herausgegeben hat. Hier zeichnet er nicht die Mitglieder eines bestimmten unter diesem oder einem andern Namen existierenden Vereins und dessen wirkliche Fahrten und Thaten, sondern er gibt vollständig frei Ersonnenes und Erfundenes, das aber zugleich in einer solchen typischen Wahrheit, daß es in seiner Gesamtheit ein echtes Spiegelbild derartiger im deutschen Bürgertum sehr beliebter und außerordentlich zahlreich vorhandener Verbindungen gelten kann. Dieser “Klub Eintracht” setzt sich aus kleinen städtischen Beamten, aus soliden, rüstigen Handwerksmeistern, Kaufleuten, Schiffsrhedern, Buchhaltern, Schullehrern, zusammen. Einige jüngere lebenslustige Männer, gescheite, welterfahrene, sowie naive und nicht gerade mit einem Überfluß von Intelligenz gesegnete, aber desto selbst­zufriedenere, unverheiratete Herren haben sich ebenfalls dem Klub angeschlossen. Zu einer Sitzung während des Sommers wird eine gemeinsame Landpartie mit Frauen und Kindern, vielleicht zur Feier eines Stiftungsfestes, beschlossen. Die einzelnen Szenen dieser Partie vom Moment der Abfahrt mit dem Vergnügungsdampfer auf der Elbe zum erwählten Schauplatz der Feier an, geben die Gegenstände der ersten Bleistiftzeichnungen. Alle sind durchweht von behaglichstem, echt niederdeutschen Humor. Sämtliche geschilderten Persönlichkeiten sind ganz in sich geschlossene Menschenwesen aus jener bestimmten bürgerlichen Sphäre. Man glaubt jeden einzelnen zu kennen, ihm in Hamburg oder anderen Städten Nieder-Deutschlands schon begegnet zu sein, ihn sprechen gehört zu haben. Von der Haartracht, der Perücke oder dem schon stark “grauhaarigen” Schädel, bis zu den Stiefelsohlen herunter, ist an jeder dieser Männergestalten alles aus einem Guß. Wie ihnen die Hüte, die Röcke, die Westen über den wohlgerundeten Bäuchen der einen, auf den hageren Leibern der andern, wie ihnen die Beinkleider sitzen und Falten werfen, das Alles ist mit unübertrefflicher Feinheit der Wirklichkeit abgelauscht, ohne das irgend etwas in alledem an ein gestelltes Modell erinnerte.

Nicht minder aufrichtig gesehen, echt und wahr geschildert, sind die guten Bürgerfrauen, die ehrenfesten Gattinnen dieser wackeren Männer, die jungen Mädchen und der kleine Nachwuchs; sind die Wirtsleute des zum Schauplatz erwählten ländlichen Vergnügungslokals, die Mägde desselben, die kleinen Dorfdirnen und Buben, mit denen diese städtische Jugend draußen zusammentrifft. Auch in dieser Bildersammlung wechseln größere Einzelfiguren mit gestaltenreichen Darstellungen belebter Szenen. Den Schönredner, den Humoristen des Klubs, den ein wenig nichtsnutzigen Don Juan der Gesellschaft, den Kassenführer und Säckelmeister, den jungen Menschen mit der Zieh-Harmonika, der für die nötige Musik während der Fahrt und auf dem Lande sorgt, den Matador des Kegelschiebens, der, seiner „Alle Neune” sicher, im stolzen Bewußtsein und Vorgefühl seines gewissen Triumphs, die gewaltige Kugel auf der flachen starkknochigen und fleischigen Hand wiegend, hinaustritt, und manche andre noch zeichnet Allers als völlig durchgeführte Einzelgestalten, in ganzer oder halber Figur. Wir wohnen gleichsam der Klubsitzung bei, in der die Partie beschlossen wird; sehen den gefüllten Dampfer dahin fahren, den eine zu spät gekommene klubangehörige Familie vergebens noch zu erreichen oder zum nochmaligen Anlegen zu bestimmen strebt; sehen die Gesellschaft an Bord des Dampfers Karten spielend, trinkend, am Geländer lehnend auf das Wasser hinausblickend. Andre Bilder zeigen die Vorbereitungen in dem ländlichen Wirtshaus für den Empfang der Gäste, deren nahe Ankunft dort bereits gemeldet ist. Der Herr Wirt holt den Rotwein, den „Langkork” aus dem Keller; Mägde und Knechte bekränzen zum Jubel der Dorfkinder den Eingang zum Willkommen für die Erwarteten. Dann erklingt der Ruf der Dorfjugend: “Se kamen!” und das lustige barfüßige Gesindel drängt sich am Zaun, um den Aufzug der Klubbrüder und - Schwestern mit dem wehenden Vereinsbanner an der Spitze zuzusehen. Prächtige, derbe, niederdeutsche, von blühender Gesundheit, und Kraft strotzende Dirnen tragen die vollen Suppenterrinen herbei. Die Herren drängen sich durstig mit ihren Seideln um das frische Faß. Das Tafeln beginnt. Toaste werden gebracht auf die Damen, auf den verehrten Vorsitzenden. Die vereinzelten Schwerenöter der Gesellschaft versuchen ihr Heil bei den jungen Mädchen, denen sie Dinge erzählen und sagen, welche dieselben erschrecken, aber ihnen doch nicht übel zu gefallen scheinen. Andre Bilder zeigen die Herren nach Tisch in lebhafter Diskussion über ihre öffentlichen und ihre privaten Angelegenheiten; die braven Hausfrauen, Familienmütter und alten Tanten, in ihrer ganzen sommerfestlichen Toilettenpracht mit antediluvianischen Hauben und Hüten auf den glatten Frisuren beim Kaffee, von ihrer Wirtschaft, ihren Mägden, Freundinnen und Nachbarinnen die wichtigsten und merkwürdigsten Dinge einander mitteilend; die hübschen jungen Fräulein und Backfische sich hinwegstehlend, um draußen im Walde unter sich zu sein; die feinen Mädchen und Buben im Felde umherstreifend, die Zäune überkletternd, mit frohen Staunen die Kühe und Kälber auf der Weide betrachtend und streichelnd; kleine Konzerte aufführend, dem Kegelschieben der Männer zusehend. Das Männerquartett singt seine Lieder unter den Bäumen. Der Säckelmeister des Klubs zahlt dem Wirt die Rechnung aus. Das Schlussbild zeigt den Vorsitzenden mit seiner freundlich blickenden rundlichen Hausfrau, seinen hübschen Töchtern und seinem großen Sohn, der des Zeichners eigene Züge trägt, am Abend wieder behaglich in der eigenen Wohnung um den Tisch beisammen sitzend, - „Zu Hause ists doch am besten.”

Das wirkliche Leben, die wirklichen Menschen unsrer Zeit können nicht realistischer, treuer, ungeschminkter, aufrichtiger dargestellt werden, als es auf diesen köstlichen Blättern geschehen ist. Und doch - wie erquicklich, wie wohlthuend wirken diese Bilder! Das macht, ihr Zeichner sieht die Welt wohl mit unbestochenen, aber mit freudigen, gesunden Augen an. Es düngt ihm durchaus kein Jammerthal. Mit der herrlichen Gottesgabe des Humors ist er reichlich gesegnet; jenes gemütvollen, echt deutschen Humors, der keine Zerrbilder schafft, nicht spottet und geißelt, sondern sich in der freundlichen Schilderung der komischen Eigenheiten der Menschen befriedigt; der – wie warmer Sonnenschein auch die hässlichsten Gebilde, die trübsten Farben in der Natur verklärt, - sein heiteres Licht auch über das Kleine, Geringe, Armselige ausgießt und das Nüchterne und Alltägliche selbst mit einem Schimmer fröhlicher Poesie schmückt. Im letzten Dezember hat der Künstler noch zwei neue Sammlungen von durch Lichtdruck vervielfältigten Zeichnungen herausgegeben: „Spreeathener” und „Eine Hochzeitsreise nach der Schweiz“. Beide sind reich an gut beobachteten, ergötzlichen Lebensbildern, an Einzelgestalten und Gruppen, welche durch ihre Wahrheit, durch ihre treffende Charakteristik überraschen; das erstgenannte Werk reich an Bildnissen von bekannten Persönlichkeiten aus der Berliner Gesellschaft. Das letztere hält nicht ganz, was sein Titel zu versprechen scheint; aber es gibt noch sehr viel mehr. Von den Erlebnissen des, übrigens ziemlich uninteressanten jungen Paares sehen und erfahren wir verhältnismäßig wenig; dafür von den sommerlichen Leben und Treiben des Volkes und der Fremden in allen Kantonen und Orten der Schweiz aber alles das, was Allers auf seinen eigenen Wanderungen in sein Skizzenbuch gezeichnet hat. Aber den Bildern von der Landpartie des Klubs Eintracht und denen aus dem Zirkus Renz kommen die dieser beiden neuesten Sammlungen im ganzen nicht völlig gleich an fesselndem Reiz, an humoristischer Kraft und Solidität der Zeichnung.

Ob Allers je dazu gelangen wird, einen Teil jener Fülle von Anschauungen, die er in sich trägt und täglich durch neue Beobachtungen der Wirklichkeit bereichert, zu abgeschlossenen Kunstwerken, durchgeführten Gemälden zu gestalten, erscheint mir zweifelhaft. Diese Fülle ist eben zu groß. Er hat zu vieles zu erzählen und der Bleistift scheint für ihn das ihm genehmste Werkzeug, um das alles gleichsam niederzuschreiben. Aber wenn er auch nie ein Bild malte, - ich fände keinen Grund, das zu bedauern. Man braucht nur Dürer und Chodowiezky, Ludwig Richter und Moritz von Schwind zu nennen, um sich zu erinnern, daß es schlichte, farblose Zeichnungen (auf Papier, Holz oder Kupfer), tausendfach vervielfältigt, waren, welche unserm Volk jederzeit die reichste, wohlthuendste, erfrischendste künst­lerische Nahrung und Erquickung für Geist und Gemüt gespendet haben.

(Transkription von: Joachim aus der Fünten, Luise aus der Fünten)